Schmalz und Rebellion

Von Tipitipitipso [Caterina Valente] bis zur Coochie meiner Mutti [Nashi44] mit Jens Balzer

Mit “Schmalz und Rebellion” könnte Jens Balzer so etwas wie ein Standardwerk über die Sprache in der deutschen Popmusik gelungen sein. Für dieses Urteil reicht schon fast allein das respekteinflößende DUDEN rechts oben auf dem Buchcover.  

Balzer, der u. a. für DIE ZEIT und den ROLLING STONE schreibt, bewegt sich chronologisch von den 1950er-Jahren bis in die 2020er-Jahre und stellt Songtexte in politische und historische Zusammenhänge. Es gibt einiges über das Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und der Popmusik zu lernen.

Schlager der 1950er-Jahre als Fernwehproduzenten, deutsche Beatmusik als Abgrenzungsversuch von der elterlichen Tätergeneration, Agitprop von Liedermachern in den 1960er- und 1970er-Jahren, Krautrock, Dialekte, Udo Lindenberg, Punk, Hamburger Schule, Modern Talking, Mittelalter-Rock, Hip Hop. Es kommt alles vor.

Balzer zitiert dabei gerne ausführlich Songtexte, die einen in gedruckter Form zwischen Heiterkeit, Erstaunen und purer Verzweiflung pendeln lassen. Die klassische Übersetzung “Kirsche, Kirsche, Dame” für “Cheri Cheri Lady” [Modern Talking] darf da natürlich nicht fehlen. Mit “Come on and get your soul / Are you ready to go now / Come on and get your girl, now she’s already to go / La La La La La La / La / La La La La La La La La La La La / La La La La La La La La La La” [Rattles] gelingt ihm ein äußerst plastisches Beispiel für englischsprachige Texte, die ohne Dictionary entstehen mussten.

Trotz nur 200 Seiten ist das Buch sehr detailreich geraten und liefert so auch für Leser, die meinen, sich schon mit der Materie auszukennen, zahlreiche Erkenntnisgewinne. Nur zwei meiner Aha-Erlebnisse: Mit den “The Rag Dolls” kam die erste deutsche ausschließlich aus Frauen bestehenden Beatband aus Duisburg [1965]. “Der Räuber und der Prinz” von DAF ist einer der ersten deutschsprachigen Texte überhaupt, der sich mit Liebe zwischen Männern beschäftigt.

Gänzlich unbekannt war mir bisher die Geschichte des Labels Türküola. Das umsatzstärkste unabhängige deutsche Plattenlabel der 1960er- und 1970er-Jahre wurde 1964 in Köln gegründet. Türküola produziert(e) türkischsprachige Musik für die in Deutschland lebenden Migranten*innen. Balzer schreibt dazu: “Das Label existiert noch heute und hat inzwischen mehr als 1000 Alben, Singles und Kompilationen veröffentlicht: auf Vinylschallplatten, aber in den 70er- und 80er-Jahren vor allem auf Kompaktkassetten, die nicht über die etablierten Schallplattenläden und Elektronikmärkte distritubiert wurden, sondern über Obst- und Gemüseläden und die Elektrofachgeschäfte der deutsch-türkischen Community.” So konnte es geschehen, dass die türkische Sängerin Yüksel Özkasap 1975 ca. 800.000 Einheiten ihres Albums “Beyaz Atli” verkaufte, ohne auch nur eine Spur in den deutschen Albumcharts zu hinterlassen.

Aufschlussreich beschrieben wird auch die Entwicklung des migrantisch geprägten deutschen Hip Hop. Vereinfacht, der Weg vom ersten Verlassen der Gastarbeiterperspektive (Advanced Chemistry mit “Fremd im eigenen Land”) zum Empowerment jüngerer Gernerationen, für die “Herkunft” keine Rolle mehr spielen soll (was zum Beispiel Elke Heidenreich nicht verstehen kann). Dass dies beileibe kein geradliniger Weg ist, zeigt das Kapitel über Bushido, Kollegah, Haftbefehl und Konsorten auf.

“Schmalz und Rebellion” erlaubt uns auch einen unaufgeregten Blick auf das aufgeladene Thema “kulturelle Aneignung”, wenn Balzer die Geschichte des deutschen Pop als Geschichte der fortwährenden kulturellen Aneignung erzählt. Als originär deutsche Phänomene könnten so gerade Schlager, Liedermacher und Mittelalter-Rock durchgehen, wobei gerade der frühe Schlager der 1950er-Jahre auch durch Schweizer, Briten und Niederländer geprägt wurde.

Für mich hat das Buch eine weitere interessante Spur gelegt. Balzer schreibt: “Während der kosmopolitische Krautrock […] im englischsprachigen Ausland größeren Eindruck hinterließ, als in seinem Heimatland, bestand das mächtige Erbe der 70er-Jahre in Deutschland nicht in einer Musik des zukunftszugewandten Experiments, sondern vielmehr in einer, die das melancholische Sentiment für alte Zeiten bediente, in denen das Leben übersichtlicher und einfacher schien.” Vielleicht erklärt genau das, den erstaunlichen Erfolg von Bands wie die Toten Hosen, Broilers und auch Slime in den 2020er-Jahren?

Schmalz und Rebellion (ISBN 978-3-411-75669-8) ist im Dudenverlag erschienen und kostet 20,00 €. Gewiefte Duisburger könnten es zum Beispiel in der Buchhandlung Scheuermann erstehen.