Ein Wagen vorwärts! (Ein Fiebertraum)

Wir waren schon sehr lange in dieser Richtung unterwegs. Einer hatte sie mal als die falsche bezeichnet, doch machten ihm seine vielen Persönlichkeiten zu schaffen, sodass er bald schon Gegenteiliges behauptete, und ohnehin schenkten wir einander oft wenig Beachtung. Immer wieder mit unseren eigenen dissoziativen Identitätsstörungen beschäftigt bis zum Reizdarm, waren wir uns vor allem in einer Sache einig, dass anzuhalten das Schlimmste wäre und an Umkehr nicht zu denken sei, denn wir alle mussten ja, gottverflucht, noch irgendwohin.


Die Landschaft hatte längst von trist zu karg gewechselt, was uns kaum berührte, weil wir unsere Augen, so wir überhaupt einmal nach draußen und nicht auf andere bewegte Bilder sahen, auf den Weg und seine unmittelbaren Ränder gerichtet hielten. Es gab nämlich trotz allem hier und dort etwas aufzusammeln, vor allem Glänzendes, und wenn einer etwas erspähte, dann wurden bei kaum gedrosseltem Tempo die Türen aufgerissen und alle freien Arme reckten sich in wildem Gewühl den Objekten der Begierde entgegen, bis eine heiße Hand etwas in ihre Wurst- oder Spinnenfinger bekam.
Die Regeln waren einfach: Es half nichts, die Sache zuerst entdeckt oder ergriffen zu haben, man musste sie auch verteidigen können. Tatsächlich lieferten wir uns heftige Kämpfe um die kleinsten Fitzelchen und Splitter von irgendwas, doch standen die Sieger meist schon vorher fest, denn einige von uns waren leider kräftiger als die anderen. Wer Gott auf seiner Seite wusste, fühlte sich zwar gleich viel stärker, nur traf dies ja im Grunde auf alle zu.
So ging es weiter und weiter: Ausgeschlagene Zähne, zugeschwollene Augen und immer wieder diesen Durchfallgeruch in den blutenden Nasen. Wir waren keine sehr freundliche Fahrgemeinschaft und wir liebten den Lärm in praktisch jeder Gestalt. Während wir über allerlei Huckel, von denen manche bis dahin wohl lebendig gewesen waren, bretterten, hörten wir Lieder von weißen Stränden, Sperma und Gedärm und trainierten dazu an unseren Plätzen, so gut es eben ging, unsere teils schwer geschundenen Leiber mit Gymnastik-Übungen, um, was uns noch oder neu zu eigen war, besser vor den anderen schützen zu können. Dies war eine Aufgabe, die mich häufig ganz in Anspruch nahm. Der äußerst ambivalente Typ am Steuer langte zum Beispiel immer wieder nach hinten und mir an die Kehle. Beim ersten Mal hatte er mir die Goldkette meiner Mutter abgerissen, später ging es ihm um den Zucker, die Bananen, den Kaffee und den Rum in meinen Taschen. Ein paar Mal schlug ich ihn sogar erfolgreich zurück, aber dann fasste er mir eisern an den Sack. Etwas in mir fand das durchaus erregend, während eine andere, eher weibliche Stimme rief: „Vergifte das Schwein!“ Ich entschied mich jedoch für den Kauf eines Messers bei einem mir gut bekannten Insassen und rammte es dem Steuermann sogleich in seine übergriffige Flosse. Wohl traf ich dabei auch mein rechtes Ei, aber das bedauerte ich kaum. Es hatte mir, stark angeschwollen, schon länger Probleme bereitet und immerhin ließ er kurzzeitig los. Fraglos hätte das ebenso gut ins Auge gehen können.
Gelegentlich war es selbst in der jüngeren Vergangenheit noch vorgekommen, dass sich die besonders großen und breiten Mitreisenden halb auf kleinere und schwächere gesetzt hatten. Manchmal wollten sie damit ihre Macht demonstrieren, mitunter behaupteten sie in therapeutischer Absicht zu handeln und immer nahmen sie den Besetzten etwas weg, Salatöl, Eisen, sonst was, ganz unabhängig übrigens davon, welche Persönlichkeit gerade in ihnen am Ruder war. Wenn sie schließlich wieder von ihren Opfern abrückten, blieben diese physisch und seelisch lädierter als vorher und mit Sicherheit pleite zurück, was ihre Peiniger nicht daran hinderte, sie in regelmäßigen Abständen aus der Distanz zu piesacken, sie zu würgen oder volle Pinkelflaschen über ihnen auszugießen. Der beißende Gestank zog letztlich alle in Mitleidenschaft, gewiss, aber die bedröppelten Gesichter sorgten auch für einige Lacher. Damit hier dennoch kein falscher Eindruck entsteht: Selbstverständlich bedauerten Teile von uns die Armen und noch Ärmeren wegen ihres traurigen Schicksals und es war keine Seltenheit, dass, während die eine Hand würgte, die andere dem röchelnden Verlierer einen Keks, die Hälfte eines Backrezepts oder eine defekte Luftpistole anbot. Wurden die menschelnden Stimmen im Kopf allerdings zu laut, gab es schnell bittere Medizin zu schlucken oder man verpasste sich, in der Hoffnung, diese depressiven Plappermäuler erst einmal zum Schweigen zu bringen, ein paar aufmunternde Elektroschocks. Niemals, wirklich in gar keinem Fall, darf man sich jenen, die des Marktes heilige Gesetze nicht begreifen wollen, unterwerfen. Dann schon lieber dem geilen Fahrer in Bestform oder irgendeinem anderen halben Arsch, der einem gerade den Oberschenkel quetscht. Man würde es an ihrer Stelle doch nicht anders machen. Ihr merkt, mittlerweile sehe ich vieles anders, denn gottlob hinderte uns das ständige Ringen miteinander keineswegs daran, unsere Geschäfte zu tätigen und unterwegs alle möglichen Dinge zu bauen oder bauen zu lassen, Fliegenklatschen, moderne Kunst und Mini-Raketen zum Beispiel. Auch Intellektuelles kam zu Stande. So entwickelte jeder von uns Lehrpläne, nach denen einige der eigenen Persönlichkeiten ihre Verwandten zu unterrichten suchten. Neben nützlichen, der Bewältigung unserer Lebensaufgaben dienenden Unterweisungen, etwa über den idealen BMI, die Addition, die Multiplikation oder die sinnvolle Bedienung unserer klugen Uhren, Brillen und Telefone, wurden auch geisteswissenschaftliche Stichpunkte und Dreisatz-Inhaltsangaben vermittelt. Weiß der Henker, wohin das wieder führen sollte. An der Situation im Inneren änderte es jedenfalls nichts und draußen… Keine Ahnung.
Einer, der es kurzzeitig aufgegeben hatte, nach neuen Gütern zu spähen oder sich darum zu balgen, äußerte, nachdem er für Minuten die Landschaft beobachtet hatte, jüngst die folgende, zweifelsohne gestohlene Theorie:
„Genossen, wir kommen eigentlich gar nicht mehr weiter. Stattdessen verändert sich unsere Umgebung zum immer Schlechteren und auch wir selbst verfallen bloß noch. Lasst uns also versuchsweise einmal den Motor abstellen und sehen, ob die abgasfreie Stille uns nicht auf bessere Ideen bringt, ja vielleicht bereits an sich zu unser aller Vorteil wäre.“
Noch ehe jemand etwas erwidern konnte, schlug sich der Idiot plötzlich selbst in die Visage, dass es krachte, und brüllte sodann aus seiner ramponierten Botox-Maske: „Weichei! Wattepimmel! Wurm!“
Objektiv berichteten wir uns über das Geschehene selbst und übereinstimmend: „Unser Sorgenkind ist seiner Dämonen noch einmal Herr geworden. Und wo gehobelt wird, da fallen eben Späne.“
Außerdem war die Diagnose vom sich vollziehenden Verfall aller offenkundig total in ihrer Falschheit. Einige von uns wuchsen nämlich permanent und taten Unvorstellbares dafür, dieses Wunder zu erhalten, bis hin zur Ausmerzung eigener und anderer Persönlichkeiten. „Wer mehr ist, ist mehr!“ rief unser Fahrer oft begeistert, auch noch als sein neuer gelber Beifahrer ihm bereits einen Ringfinger in die Nase und den anderen ins Ohr gebohrt hatte.
Bei genauerer Betrachtung waren es freilich vor allem die Füße unserer Riesen, welche unbeirrt und unaufhaltsam an Größe zunahmen. Ihre alten Schuhe passten ihnen schon lange nicht mehr, ständig kamen sie sich in die Quere und zerstampften, mit oder ohne Absicht, was da auf dem Boden lag. Ihre glücklichen Besitzer fanden inzwischen kaum noch einen fußfreien Raum, um sie dort abzustellen, und wir verzeichneten binnen Kurzem mehr wundgetretene und blutende Zehen als jeder Anfänger-Tanzkurs für adipöse Gaskranke. Ich, der ich nie auf so großem Fuße gelebt habe, lande leider regelmäßig unter diesen herrlichen Quadratlatschen, doch will ich nicht klagen, weil sie mir, trotz des Schmerzes, stets auch ein leuchtendes Vorbild gewesen sind… Was eine meiner weniger beliebten Persönlichkeiten just in diesem Moment vehement für sich bestreiten möchte… Aber ich lasse sie nicht zu Wort kommen. Einen Augenblick, bitte…
„Was sagt sie? Sozia…? Sie soll still sein… Sofort! Wahnsinnige!“
Es tut mir leid, aber wenn man mich derart provoziert, dann kommt bei mir ein ganz anderer hoch, dann muss ich mich sehr beherrschen… Ich lasse mich nicht gerne so gehen, wirklich nicht! Das ist mir so unangenehm wie der Zahnarzt. Oh…
„Sie spricht ja immer noch! Gerechtigkeit? Vermaledeite Castro-Hure, Kommi-Fotze, Kanaratte! Sei still, du! Sei still, sonst… Was? Gleichheit? Nein, nein! Die gleiche Spannung hilft hier nicht mehr… Ich erhöh sie jetzt, pass auf…“
Verbranntes Fleisch… Riecht gar nicht so schlecht. Wo war ich? Ach ja, seit einer Stunde sind alle irgendwie krank. Der neben mir hat einen Lungenflügel und zwei Eimer Schleim ausgehustet, doch war da noch ein Geschäft abzuschließen und es ist hier sowieso zu wenig Platz, um Abstand zu halten. Außerdem trägt der Fahrer auch keine Maske… Und wer ist denn nicht dann und wann erkältet? Heiß ist es. Ist das Fieber? Oder die Sonne mit ihren Eruptionen? Irgendwer hat mir mal irgendwas darüber erzählt. Möglicherweise ist bloß die verdammte Klima-Anlage im Arsch… Wie wäre es denn jetzt mal mit Musik? Wenn nur die Großfüßler etwas vorsichtiger tanzen könnten… Ja, ich weiß. Ich soll nicht immer ablenken… Der Sprit geht zur Neige, draußen ist alles Wüste und die Vorräte sind beinahe aufgebraucht. Das sieht nicht gut aus, zugegeben. Andererseits können wir noch ein gutes Stück fahren, bestimmt 20, 30 Meter… Und vielleicht ist da ja schon alles wieder viel besser, das weiß man doch nicht, Herrgott! Und jetzt noch zurück? Wohl was am Kopf? Ich lauf doch nicht, ihr Spastis, fällt mir nicht ein… Ich hab immer gearbeitet… Meine anderen Persönlichkeiten haben sich den Hummer nicht verdient… Vor allem nicht die schwarze Schlampe… Humba, Humba, Humba, Tä… Ist das Wasser im Fußraum? Das riecht ganz anders… Einer macht die Scheibe runter! Es kommt nur Sand herein… Seltsam, aber so…

Falls die Aufzeichnung hier mal jemand hört… Ich hätte doch noch eine Frage… Oder zwei… Aber man soll nicht zu viel fragen, das macht einen ganz wirr… Also nur eine. Was hätten wir sonst tun sollen? Was?

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