Körperwelten

Fragmente zur Nacktheit im Punkrock und ihre mögliche Bedeutung

In den letzten Tagen habe ich einen ganzen Stapel von Büchern zum Thema Punkrock/Hardcore gewälzt und mir viele Fotostrecken im Internet angeschaut. Die Frage, die mich umtreibt: Welche Rolle spielt(e) Nacktheit – in erster Linie der nackte Oberkörper – eigentlich im Punkrock/Hardcore? Und was bedeutet diese Nacktheit womöglich? Dabei liegt der Fokus auf der Nacktheit auf der Bühne und die potenzielle Wechselwirkung mit einer Nacktheit vor der Bühne. Vierzig Jahre Konzertbesuche versetzen mich dabei in die Lage, auch ein paar persönliche Eindrücke und Erfahrungen einzustreuen.

Gerne würde ich hier meine (gar nicht so) steilen Thesen mit Beweisfotos untermauern, aber leider lässt das mein Respekt vor dem Thema Urheberrecht nicht zu (Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass Urheberrechtsverletzung ein teurer Spaß ist). Nehmt das Beitragsbild daher als Symbolfoto und vertraut auf eure eigenen Recherchekompetenzen, um mir meine Erklärungsversuche um die Ohren zu hauen.

Vorweg: Nacktheit auf und vor der Bühne ist ein männliches Privileg. Hier greift die empirische Evidenz.

Iggy Pop

Gilt retropesktiv als der “Godfather of Punk” und gehört deswegen hierher. Eigentlich aber ein Kind der späten Sechziger Jahre (Das Debüt-Album der The Stooges erschien bereits 1969. “Raw Power” mit dem ikonographischen Cover erschien 1973). “Körperlichkeit als emanzipativer Akt” kann hier vor dem Hintergrund der Aufbruchstimmung der Sechziger Jahre unterstellt werden. Gleichzeitig greift das Bild des “Rock ‘N’ Roll Animal”. Ich verbuche Iggy unter animalischer Nacktheit im Rockkontext und parke ihn hier.  

Henry Rollins

Konzertbericht. Ich befinde mich in Nijmegen oder Eindhoven. Ich bin mir nicht mehr sicher, wo genau das war und auch das Jahr weiß ich nicht mehr. Henry gibt ein Konzert. Vor dem Konzert macht er sich in einem Raum hinter der Bühne warm. Gäste, die wollen, können sich das Schauspiel durch eine Scheibe angucken. Henry betritt die Bühne. Er trägt schwarze Shorts. Sonst nichts. Er ist vom Workout schweißgebadet. Er ist ein Muskelpaket. Beim Singen scheint jeder einzelne Muskel seines gestählten Körpers angespannt zu sein. Er leistet harte Arbeit. Wir können seine Tattoos sehen. Sein Auftritt schreit nach einer in Stein gemeißelten Skulptur. Henry wird unter Körperkult & Bodybuilding in Tateinheit mit Narzissmus abgelegt. Rollins kann aufgrund seiner Omnipräsenz und seiner Historie als einflussreich gelten. Er ist daher die Stil-Ikone des nackten Oberkörpers im Punk.

Fugazi

Es läge nahe, das Zentrum des nackten Oberkörpers in den USA eher an der Westküste/Pazifik zu vermuten. Wegen des Einflusses des Strandlebens, was mit einem eher freizügigeren Bekleidungsstil einhergeht. So scheint es aber nicht zu sein. Nach Sichtung des Fotomaterials verorte ich das Zentrum in Washington D.C. Dischord-Bands spiel(t)en auffallend oft mit nacktem Oberkörper. Fugazi sind dafür ein Beispiel. Augenscheinlich hat dies nichts mit Körperkult (=> Henry Rollins) zu tun. Zwei Erklärungsansätze:

[1] Befreit vom modischen Firlefanz und showmanship hält im Hardcore (=> Punk versus Hardcore) eine gewisse Kargheit auf der Bühne Einzug. An Hingabe mangelt es nicht, im Gegenteil, aber Hardcore kennt keine Showelemente und ist somit auch ein Stück weit harte Arbeit mit Echtheitszertifikat. Das scheinen mir die nackten Oberkörper der Dischord-Musikarbeiter zu signalisieren. Aber nicht nur.

[2] Hardcore löst in seiner reinsten Form (wenn er nicht selbst zur Formel und Geschäft geworden ist) das Versprechen des Punk ein. Es gibt keine Barriere zwischen Band und Publikum. Die wunderbare Erfahrung eines intensiven Hardcore-Gigs durchleben wir gemeinsam, oftmals hautnah. Gemeinsames Schwitzen in kleinen Clubs, womöglich ohne nennenswerte Bühne (Augenhöhe!), erhöht dabei den Intensitäts-Level. Der nackte Oberkörper wird hier als Teil eines imaginären Hardcore-Schwitzhütten-Rituals gedacht. Dischord-Bands stehen für mich wie keine anderen Bands für dieses Versprechen des Einswerden.

Jello Biafra

Schwierig. Jello Biafra ist definitiv ein Freund des “Oberkörper frei”. Er ist definitiv auch ein Showman. Der Dischord-Ansatz (=>Fugazi) scheint daher hier nicht zu greifen. Auch die Selbstverletzung (=> Der malträtierte Körper) scheidet aus. Auf den Fotos sieht sein Körper nicht lädiert aus. Für Körperkult & Bodybuildung (=>Henry Rollins) reicht es irgendwie auch nicht. Hier helfen vielleicht zwei eigene Beobachtungen. Vor Jahren hab’ ich ihn in der Live Music Hall in Köln gesehen und er hat mich genervt. Erstens wegen seinen bekannten und auch gefürchteten Erklärbär-Qualitäten (Predigt von der Bühne: “Support Angela Merkel”). Zweitens und viel mehr wegen seiner Bühnenshow. Sehr wild tobte der ältere Herr über die Bühne. Ein Gang runter hätte angesichts seines Alters auch gereicht, so dachte ich damals. Erst vor kurzem sah ich auf ARTE eine von diesen Talking Heads – Dokus über Punkrock mit den erwartbaren Gästen und Jello sprang schwungvoll als rüstiger Rentner von hinten auf das Laber-Sofa. Konklusion: Jello strotzt nur so vor Lebenskraft und Energie. Er ist ein Vitalitäts-Monster. Das zeigt er gerne. Gestern wie heute. Sein nackter Oberkörper war/ist hier ein Mittel zum Zweck.

Red Hot Chili Peppers

Haben bekanntlich ihr musikalisches Konzept bei den Big Boys geklaut und werden deswegen hier verhandelt. Notorische Nacktheit. Auch untenrum. Der Penis ist enorm wichtig (Socken-Phase). Kein Netz, kein doppelter Boden, auch wenn beim Foto-Shooting mal lustig aus der Wäsche geguckt wird. Sexualisiert. Eindeutig. Mit der Keule. 

Der malträtierte Körper

Einfach. Zeugnis ablegen von den Wunden und Schmerzen, die man seinem Körper zugefügt hat. Die nackten Oberkörper von Sid Vicious oder Darby Crash zeigen das zum Beispiel deutlich. Oder gleich eine Selbstverletzung auf der Bühne. Ein nicht seltens Phänomen in der Welt des Punkrocks. Und Blut fließt auf nackter Haut besser. Eine dunkle Erinnerung an einen Antiseen-Gig in Essen kriecht hoch. Ein Band-Mitglied zieht sich gleich zu Beginn der Show eine Flasche durch die Fresse und blutet sich und die Bühne voll. Ich wäre gerne nicht dabei gewesen.

Punk versus Hardcore | GB versus USA

Den nackten Oberkörper sucht man im frühen Punk (fast) vergeblich. Als Ausnahme kann Sid Vicious (=> Der malträtierte Körper) gelten. Ob Punkkultur, ob Skinheadkultur, Kleidung bzw. Mode spielt neben der Frisur eine große Rolle. Sie signalisiert Zugehörigkeit und Abgrenzung. Ohne äußere Erkennungsmerkmale keine Stammeszugehörigkeit. Dabei wird das modische Spektrum sehr schnell kleiner und die Abgrenzung formelhaft (Nietenjacken! Bondagehose! Springerstiefel!). Für Nacktheit ist hier kein Platz. Sicherlich ein überwiegend britisches Phänomen.

Das Aufkommen des Hardcore löst den Zusammenhang zwischen Kleidung und Punk dann weitestgehend auf. Mode spielt keine Rolle mehr, ist praktisch sogar gebrandmarkt, weil sie nicht “real” ist und den ungetrübten Blick auf das Wesentliche verstellt. Stattdessen rücken Musik (in einer härteren und schnelleren Variante) und ethische Grundsätze (wieder) in den Vordergrund. Zurück zum Kern und Stammeszugehörigkeit wird nicht durch Kleidung definiert.

Das Süd-Nord-Gefälle

Wie sieht es in Deutschland aus? Die Sichtung zeigt, dass der nackte Oberkörper im frühen deutschen Punk keine Rolle spielt (=> GB-Einfluss). Auch hier muss erst der Hardcore Einzug halten. Und da war der Süden schneller als der Norden. Aus der Ferne betrachet (ich war damals weder in Nagold noch im AJZ Homburg vor Ort) scheinen mir die Spermbirds ein wesentlicher Faktor für die Hardcore-Werdung zu sein. Auch die so wichtigen Italiener landeten zuerst im Süden. Grundsätzlich scheint die Dichte des nackten Oberkörpers von Süden nach Norden stetig abzunehmen. In unserer Hood (Eschhaus) wurde der Nackedei – auch als der Hardcore schon in voller Blüte stand – nur selten gesichtet.

Ein paar Quellen: ar/gee gleim “Geschichte wird gemacht” | Holly George Warren “Punk 365” | Edward Colver “Blight at the end of the funnel” | Anne Ullrich/Lee Hollis “Got to land somewhere” | Cynthia Connolly/Leslie Clague/Sharon Cheslow “Banned in DC” | Stephen Colegrave/Chris Sullivan “Punk.” | TRUST-Fanzine | Helge Schreiber “Network of Friends” | “When the Punks go marching in. A scrapbook of second-wave UK Punk” | Ruby Ray “From the edge of the world California Punk 1977-81” | Wolfgang Burat “Keine Atempause”