Geschichte

Frau Eichendorf 

Elf Uhr und auf dem Weg nach Hause. Das kann gar nicht wahr sein: Hab‘ ich ein Glück! 

Dabei ließen wir uns noch richtig Zeit. Auf dem Weg von Neudorf nach Hochfeld erklärte mir Thomas noch all die Feinheiten: Also Bürgerhilfe war tatsächlich der richtige Lullijob. Er hatte auf dem Papier jeden Tag so drei bis vier Leute stehen, für die er ein bis zwei Stunden jeweils da zu sein hatte. Das waren ganz unterschiedliche Leute: mal Alte, mal Behinderte (Spastis, geistig und körperlich Behinderte) und auch so Asis, manchmal auch alles irgendwie zusammen. Bei ganz vielen zahlt das Amt. Die wussten gar nicht, wie viele Stunden sie hatten. Denen sagte man das auch nicht so genau. Da die meisten auch etwas Banane waren, merkten die das gar und fragte auch nie nach. Deswegen konnte man die Zeit auch etwas verkürzen. Wichtig war, dass man, wenn man tatsächlich mal die veranschlagte Zeit blieb, das Ganze so aussehen zu lassen, als ob man total nett wäre und das nun wirklich nur die Ausnahme war. Dabei sollte man nie vergessen, zu erwähnen, wie unfassbar viel man zu machen hätte. Da das auch alle Zivis bei der Bürgerhilfe immer so machten, kam niemand auf die Idee, da nachzuhaken. Nur manche waren unangenehm, die hatten entweder so eine Blockwartmentalität aus der Nazi-Zeit übrig oder kannten ihre Ansprüche.  Frau Eichendorf war so eine. Die wäre zwar total nett und nicht so blöd wie die anderen, aber die wusste genau Bescheid. Bei der musste man vorsichtig sein. Vor allen Dingen sollte man ihr – und überhaupt niemanden – niemals die Telefonnummer geben, weil die versuchte persönlichen Kontakt aufzunehmen. Dann hatte man ständig den Anrufbeantworter vollgequatscht oder noch schlimmer, die gleich am Telefon. 

Was das heißen könnte, wurde mir dann ziemlich klar. 

Ha-ha-ha-ll-oo! Da-da-das i-i-ist a-abe-aber ne-ne-nett se-sie ka-ka-kennz-zu-le-lern-n-nen!”, strahlte sie mich an, während sie mit ihrem Elektrorollstuhl angefahren kam.  

Guten Morgen, Frau Eichendorf! Jetzt beachten Sie mich schon gar nicht mehr. Das ist ja gar nicht nett von Ihnen! Da bin ich ganz traurig.“, sagte Thomas und zwinkerte uns zu. 

Da-da-du ke-ke-kannst ja de-de-direkt e-e-ein-ka-ka-kaufen ge-geeehen. W-wie im-m-m-mer! Da-da-dann ke-ke-kann ich m-mich m-m-mit de-de-dem n-net-t-t-ten ju-jung-g-geeen M-m-ann a-a-an-f-f-freu-freunden.

Ja, sie schien nett zu sein. Thomas sagte noch, dass er den Zettel aus der Küche mitnehme. Sie ermahnte ihn noch, den ledernen braunen Einkaufstrolley zu nehmen. Außerdem, und das könne ich mir gleich auch merken, sollte er nicht nach Plus gehen, weil dort die Leute so schlecht bezahlt würden.  

Bevor er ging, ließ er mich noch wissen, dass ich ja schon mal den Boden saugen könne und den Balkonboden, Bad und Küche feucht wischen könne, weil wir heute ja noch Vertretung in Neumühl machen müssten. Das wäre ja jetzt praktisch, dass wir zu zweit wären.  

Jetzt war ich also allein mit ihr. Das nennt man wohl ins kalte Wasser springen. Also gesaugt hatte ich ja vorher auch schon bei mir, so dass ich mir gleich den Sauger aus der Besenkammer holen wollte. Lieber was machen, anstatt hier unnötige Räume für anstrengende Kommunikation zu öffnen, dachte ich mir. Allerdings machte diese Frau Eichendorf auf. Schnell wollte sie wissen, was das denn für ein we-we-will-de-des T-Shirt war, was ich da trug.  

Ich: MDC: Million of dead cops. 

Sie: Ah-ha Ha-ha-he-hew-we-wie M-m-me-te-tell. 

Ich: Nee, das ist was ganz Anderes als Aha. Die haben eher Discomusik gemacht. 

Sie: N-n-nein! Ah-ha Ha-ha-he-hew-we-wie M-m-me-te-tell. 

Ich: Ach so, entschuldigen sie. Nein, kein Heavy Metal. Eher so Hardcore. Das ist was  
Ähnliches, nur politisch, nicht so stumpf. 

Sie: Te-tete-toll! 

 

Ja, toll! Keine Ahnung, wie ich das aushalten soll. Sie fragte natürlich weiter und erzählte und erzählte: von ihren tollen Zivildienstleistenden, die ja alle soo nett waren, obwohl sie manchmal ganz schön schräg ausgesehen hätten und dass manche von ihnen heute noch anrufen täten und sie sogar noch besuchen. Bestimmt, als ob sich das jemand freiwillig antat. Allein vom Zuhören und Konzentrieren bekam ich Kopfschmerzen. Durch die scheiß gestotterte Nuschelei konnte ich noch nicht mal richtig raushören, ob sie die Stimme hob oder senkte. So konnte ich noch nicht mal Satzenden und Satzzeichen richtig deuten.  

Immer schön freundlich sein. Das wird gar nicht so einfach. Ist ja auch ganz schön traurig. Ich meine, da kommen den ganzen Tag Leute hin, weil die bezahlt werden oder müssen: Krankenpfleger, Essen auf Rädern, irgendwelche Physiotherapeuten oder Krankengymnasten, Sozialarbeiter und so Typen wie ich. Keiner macht das doch freiwillig. Alle tun nur so, damit es ihr nicht noch beschissener geht. Da bin ich bestimmt nicht der erste, der das anders macht. 

Ich machte also eine Weile mit und versuchte irgendwas rauszuhören. Von selbst hörte die nicht auf. Also musste ich den harten Break wählen, tippte auch die Uhr und sagte, dass ich ja unbedingt noch saugen und putzen müsste, bevor Thomas wiederkäme. Sie winkte ab und sagte, dass es ja gar nicht so schlimm aussähe. Da hatte sie wohl recht. Die Wohnung sah aus wie geleckt. Vermutlich waren alle damit beschäftigt, möglichst schnell ins Arbeiten zu kommen. Also klärte ich sie auf, dass ich mich da blöd fühlen würde, wenn ich meine Zeit nur so vertrödeln würde, denn schließlich hätte sie ja auch ein Recht darauf und ich eine Pflicht. 

Schnellen Schrittes ging ich also zum Besenschrank, um den Miele-Sauger herauszuholen und begann mein Werk im Flur. Aber der Lärm des Saugers sollte mich nicht schützen, denn mit ihrem Elektrohobel kam sie mit Leichtigkeit in alle Ecken der Wohnung. So konnte sie jederzeit weiter quasseln, ich sie aber immer schlechter verstehen, so dass ich immer wieder den Sauger ausstellen musste, um sie zu verstehen. Das störte sie aber keinesfalls, genauso wenig wie meine einsilbigen Antworten. 

Am Ende erlöste mich Thomas mit seiner Rückkehr. Sofort grinste er mich an und sagte, dass ich wohl noch eine Menge zu lernen hätte und demnächst nicht so viel quatschen sollte. Frau Eichendorf lachte kurz auf wie ein kleines Schulmädchen, widmete sich dann aber der Kontrolle Einkaufs und des Kassenbons. Ich saugte noch schnell über die Fliesen in Küche und Bad, weil es zum Putzen nicht mehr reichte, verstaute den Sauger und verabschiedete mich ebenso überschwänglich von Frau Eichendorf, wie sie es mit uns tat. Dabei schaute ich ihr immer schön auf die Stirn. Das hatte ich beim Verkauf von Versicherungen gelernt: Immer Augenkontakt halten. Das kommt an. Notfalls auf die Stirn gucken, denn das sieht für den Gegenüber aus, als ob man ihm in die Augen schaue.  

Vermutlich werde ich hier mein ganzes Repertoire brauchen. Egal ob beim Verkauf oder sonst wo, die Menschen brauchen immer den vollen Einsatz. 

Thomas bestätigte mir dann, dass das sicher einer der härtesten Fälle war. Mit der hätte man ja auch Mitleid, weil die ja auch richtig intelligent wäre. Die würde halt voll in ihrem Elend verkümmern und man könnte schlecht Nein bei ihr sagen, weil sie sich so um einen bemühen würde. Das wäre jetzt bei Frau Viehkötter anders. „Da ist der Name Programm!“, grinste er mich an.   

 

 

 

Der Lemonsclub

Der Lemonsclub ist meine Heimat. Jeden Abend trinke ich hier ein paar Bier. Ich bin extra hier hin gezogen, um jeden Abend hier sein zu können.

Immer bin ich der erste Gast im Laden und schon beinahe besoffen, wenn der zweite Gast kommt.

So ziemlich alles an diesem Laden ist besonders. Ein kleiner Schlauch mir Schaufenster, liebevoll eingerichtet mit viel Gedöns mit Theke für zehn Leute, Tischchen mit Salzstangen, Flipper, Kicker und einem kleinen Podest für Plattenspieler, CD-Spieler und Mischpult. Dabei ist alles wunderbar schmuddelig ohne versifft zu sein. Dazu sind die Betreiber die absolut coolsten Typen, die ich je vorher gesehen hatte. Im Mittelpunkt steht ein quirliger kleiner Blondschopf, der ein wenig wie eine Mischung aus Semmelrogge und Cobain wirkt. Immer in Aktion, immer mit Ideen und immer im Mittelpunkt. Dazu ein Heer von Leuten, die scheinbar alle irgendwie im Laden eingebunden oder beteiligt sind. Und alle machen irgendwas: Sie spielen in Bands, haben irgendwas mit Theater und Veranstaltungstechnik zu tun, legen Platten auf und schreiben für Magazine. Genauso will ich sein, so will ich leben und irgendwie gehöre ich schon fast dazu. Durch lange Präsenz habe ich es geschafft, ohne mich anzubiedern, auf mich aufmerksam zu machen. Manchmal darf ich sogar am

Wochenende Platten auflegen und in der Woche habe ich einen festen Platz, den Donnerstag.

Das ist umso erstaunlicher, als dass ich noch gar nicht so lange in diese ganze Welt eingetaucht bin.

Und ein klein wenig stolz bin ich schon, dass ich mich von den Zwängen des Elternhauses gelöst habe und ans andere Ende der Stadt gezogen bin. Jetzt bin ich hier am Anfang eines Lebens, dass mich aus dem Dunkel der Spießigkeit und Kleinkariertheit rausreißen wird.

Hier leben Menschen, die in allem was sie tun, Aufregung verheißen. Keiner hier hört Musik aus den Charts, hier wird Becks-Bier getrunken (obwohl das scheiße riecht und schmeckt), alle sind auf der Suche nach dem Abseitigen und Selbstbestimmten. Die Frauen sind unfassbar schön, die hier arbeiten oder als Gäste erscheinen. Auf irgendeine Weise klug sind sie alle hier. Und niemand schmiedet Pläne für ein genormtes Leben.

 

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